Stellen Sie sich eine Studierende der Rechtswissenschaften an einer Hochschule vor. Diese Studierende muss viele Vorlesungen und Seminare aus den Bereichen Zivilrecht, Strafrecht und öffentliches Recht besuchen, Kompetenzen erwerben und diese in Prüfungen unterschiedlicher Art unter Beweis stellen. Sie können sich vermutlich auch vorstellen, dass die Studierende die Lernangebote für sich als unterschiedlich erfolgsversprechend wahrnimmt. Sie wird womöglich von der Vorlesung zum Familienrecht und den dazugehörigen Materialien begeistert sein, in der Veranstaltung zum Medienrecht wird sie dagegen das Gefühl haben, nicht das nötige Wissen und Können zu erwerben.
Was kann die Studierende im Fall von Medienrecht tun? Sie kann herausfinden oder überlegen, was für ihre Prüfung relevant ist, oder was sie besonders interessiert, und sich selbst ein Lernziel setzen. Als weiteren Schritt muss sie dann festlegen, auf welche Weise sie ihr persönliches Lernziel erreicht, also das lernen kann, was sie in der eigentlichen Veranstaltung vermisst. Während des Lernens muss sie überwachen, ob sie die gewählten Lernmethoden und -strategien einhält. Anschließend reflektiert sie, ob sie tatsächlich ihre Kompetenzen (genügend) erweitert hat oder ob sie an irgendeiner Stelle noch nachjustieren muss, z. B. mehr Lernzeit einplanen, eine andere Lernstrategie einsetzen oder andere Quellen für Lernmaterialien nutzen.
Die Überlegungen und Handlungen der Studierenden werden als selbstreguliertes oder selbstgesteuertes Lernen bezeichnet. Die Fähigkeit zur Selbststeuerung beim Lernen wird umso relevanter, je anspruchsvoller die Bildungsziele sind, sie ist aber auch gleichzeitig eine Voraussetzung für das lebenslange Lernen.
A major goal of formal education should be to equip students with the intellectual tools, self-beliefs, and self-regulatory capabilities to educate themselves throughout their lifetime. These personal resources enable individuals to gain new knowledge and to cultivate skills either for their own sake or to better their lives. The rapid pace of technological change and accelerated growth of knowledge are placing a premium on capability for self-directed learning. (Bandura 1993, 136)
Es gibt verschiedene Modelle des selbstregulierten Lernens mit unterschiedlichen Fokussierungen oder Komponenten. Ein Phasenmodell stammt von Schmitz et al. 2007 (englischsprachiger Artikel Schmitz, Wiese 2006). Hier werden drei Phasen unterschieden, die auch unsere Studierende durchlaufen hat:
- Präaktionale Phase: Setzung von Zielen, Strategiewahl und Handlungsplanung
- Aktionale Phase: Lernhandlung, Umsetzung von Strategien, Aufrechterhaltung und Optimierung der Handlungsausführung, Selbstbeobachtung
- Postaktionale Phase: Bewertung der Handlungsergebnisse, Abgleich mit Planungsphase und eventuelle Modifikationen für anschließende Lernzyklen
Dyrna (2021) identifiziert 9 Dimensionen des selbstgesteuerten Lernens, also Bereiche, in denen die Lernenden Entscheidungs- und Handlungsoptionen haben: Lernziele, Lerninhalte, Lernquellen, Lernmethoden, Lernweg (chronologischer Ablauf), Lerneinschätzung, Lernpartner, Lernzeit, Lernort.
Was hat nun selbstreguliertes Lernen mit Offenen Bildungsmaterialien zu tun? Die Studierende der Rechtswissenschaften hat sich Lernziele und Lerninhalte überlegt. Nun könnte sie traditionell in der Datenbank der Hochschulbibliothek recherchieren, welche gedruckten oder digitalen Lehrbücher diese zur Verfügung stellt. Sie entscheidet sich aber, nach geeigneten Lernquellen im Internet zu suchen: nach Lehr-Lernmaterialien, die mindestens frei zugänglich oder mit einer Creative-Commons-Lizenz offen lizenziert und damit im großen Umfang nachnutzbar sind.
Die Studierende sucht in einem nationalen OER-Portal, welches auf Hochschulbildung spezialisiert ist. Sie findet drei passende Einträge und muss nun entscheiden, welche Lernquelle sie nutzen möchte. Sie muss also die drei Möglichkeiten überprüfen und die auswählen, mit welcher sie ihr Lernziel am besten erreichen kann. Sie entscheidet sich für eine Serie von interaktiven Videos. Außerdem hat sie ein Quiz gefunden, das sie zum Schluss als Selbsttest durchlaufen möchte (Lernmethode). Sie kann dank dieser OER auch selbstständig festlegen, wann sie die Videos anschaut, wie lange, in welcher Geschwindigkeit, wie häufig sie die interaktiven Aufgaben löst und wo sie das Ganze tut (Lernort, Lernzeit, Lernweg). Sie kann sich auch mit anderen, selbstgewählten Personen zum gemeinsamen Lernen verabreden (Lernpartner). Auch hier kann die Lerngemeinschaft über die genannten Lernmodalitäten selbst bestimmen. Nachdem die Studierende ihre geplanten Lernhandlungen vollzogen hat, reflektiert sie ihren Lernerfolg (Lerneinschätzung). Sie kann beispielsweise entscheiden, genügend Kompetenzen mit den OER erworben zu haben. Vielleicht hat sie aber auch während des Lernens bemerkt, welche Fachfragen sie vertiefen möchte. Dann recherchiert sie erneut, dieses Mal nach Lernquellen für das nächste Lernziel. Eventuell kommt sie sogar auf die Idee, auch nach OER zum Familienrecht zu suchen, um auch da ihre Kenntnisse – trotz bisheriger Zufriedenheit mit der Lehrveranstaltung – zu vertiefen.
Lernende, die OER nutzen (wollen), müssen zwar als Voraussetzung ein Mindestmaß an Selbststeuerung in ihren Lernprozessen mitbringen, wenn sie unangeleitet mit selbstgewählten Materialien lernen möchten. Denn spätestens bei der Auswahl der gefunden Materialien müssen sie sich klar über ihre Lernziele sein, und sie müssen die Passung des Lernangebots zu ebendiesen Zielen abschätzen können. Sie treffen auch, wie oben skizziert, eine Reihe von Entscheidungen, die ihre folgenden Lernhandlungen und damit den Lernerfolg beeinflussen. Die Nutzung von OER kann aber dazu führen, dass Selbststeuerungsfähigkeiten bei den Lernenden deutlich erweitert werden. Je mehr sie mit freien und frei gewählten Lernmaterialien arbeiten, desto sicherer treffen sie die richtigen Entscheidungen für ihren Lernprozess, desto besser können sie ihn reflektieren. Sie werden zu kompetenten Lerner*innen. Ihr Leben lang.
Die Voraussetzung dafür ist: Es muss genügend zugängliche und im Fall von Hochschulen wissenschaftlich basierte Offene Bildungsmaterialien geben. Denn nur dann haben die Lernenden die Wahl, können Entscheidungen treffen und arbeiten nicht nur (unselbstständig) den vorgegebenen Lernstoff in der vorgegebenen Weise zu vorgegebenen Zeiten usw. ab.
Literature
Bandura, A. (1993). Perceived Self-Efficacy in Cognitive Development and Functioning. Educational Psychologist, 28(2), 1 17-148.
Dyrna, J. (2021). Selbstgesteuertes Lernen. Begriffsbestimmung und Operationalisierung. In J. Dyrna, J. Riedel, S. Schulze-Achatz & T. Köhler (Hrsg.). Selbstgesteuertes Lernen in der beruflichen Weiterbildung. Ein Handbuch für Theorie und Praxis. Münster, New York: Waxmann.
Schmitz, B. & Wiese, B. (2006). New perspectives for the evaluation of training sessions in self-regulated learning: Time-series analyses of diary data. Contemporary Educational Psychology, 31, 64-96.
Schmitz, B., Landmann, M., & Perels, F. (2007). Das Selbstregulationsprozessmodell und theoretische Implikationen. In M. Landmann & B. Schmitz (Hrsg.), Selbstregulation erfolgreich fördern. Praxisnahe Trainingsprogramme für effektives Lernen (S. 312–326). Stuttgart: Kohlhammer.
Wild, E. & Möller, J. (Hrsg.). (2021). Pädagogische Psychologie (3., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage). Berlin: Springer.
Woolfolk, A. (2020). Educational Psychology, Global Edition. Harlow: Pearson.